Bürgerlicher realismus |
Index » Bürgerlicher realismus » Bürgerlicher Realismus und Roman » Individuum und Gesellschaft Individuum und GesellschaftInsofern die Literatur des Bürgerlichen Realismus auf das Individuum sowie auf das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft konzentriert bleibt, findet sie im Bildungs- und Entwicklungsroman ein geeignetes Genre zur Umsetzung programmatischer Vorgaben."' Denn die Vermittlung bürgerlicher Werte, Normen und Lebensweisen unternimmt man mit Blick auf das Individuum, aber auch auf die gesamte bürgerliche Gemeinschaft. Für dieses Ziel erwies sich ein Genre, das flexibel genug war, beide Seiten im Auge zu behalten und miteinander in Beziehung zu setzen, als besonders geeignet. Der Bildungs- und Entwicklungsroman ermöglicht sowohl den Blick auf das Prosaisch-Reale als auch auf das Subjektiv-Poetische. Indem die Entwicklungsgeschichte eines Subjekts verfolgt wird, setzen sich der Erzähler undmit ihm der Leser zugleich mit dessen objektiven Lebensumständen auseinander. Dieser duale Erzählerblick auf Welt und Subjekt, auf Gesellschaft und Individuum ist dem Bildungs- und Entwicklungsroman immanent, die thematische Ausrichtung des Genres erfordert eine solche Erzählerhaltung. Diese erzähllechnische Eigenheit erklärt sodann auch die Struktur und den Verlauf nahezu aller Bildungs- und Entwicklungsromane des Bürgerlichen Realismus: Sic beginnen mit der erzählten Welt der Kindheit und Jugend, Heimat und Familie, und genau hier enden sie auch. Das Ideal der Verbindung und Aussöhnung prägte die Verhaltensmuster individueller bürgerlicher Biographien und sozialer Milieus, auch in den Romanen des Bürgerlichen Realismus. Bürgerlichen Akteuren erscheint es erstrebenswert, diesem Leitbild nachzufolgen, Lehrjahre und Wanderjahre abzuleisten, um dem Ziel der Integration des bürgerlichen Individuums in die bürgerliche Gesellschaft folgen zu können. Der Idealtypus von Bürgerlichkeit bleibt dabei unverändert, Bildung, Ausbildung, Humanität, Fleiß, Sauberkeit sowie ein Künstlertum im Rahmen einer handwerklichen Tätigkeit sind die zentralen Werte. Dennoch fällt der Integrationsprozess zunehmend schwerer, es folgen die Jahre der Krise der bürgerlichen Selbstwahrnehmung; Zweifel kommen auf, ob die aus diesem Idealtypus sich ergebenden Modelle der Lebensführung noch praktizierbar seien. Diese Spannung lührte zur Krise der bürgerlichen Lebensführung und ließ jenes ganzheitliche Bürgerideal allmählich obsolet werden, welches seit dem 18. Jahrhundert so wirkungsmächtig innerhalb des Bürgertums Bestand gehabt hatte. In Analogie zum Ãobergang des frühen, programmatischen zum Spätrealismus zeichnet sich von daher auch innerhalb des Genres Bildungs- und Entwicklungsroman ein Wandel ab. Der Entwicklungsroman der 1850er und 1860er Jahre wird in einen Antibildungs- und Desillusionsroman überführt. Um die Wende zum 20. Jahrhundert dominiert der Anti-Bildungsroman die literarische Szene. Im beginnenden Massenzeitalter der Moderne hat das traditionelle Schema des Bildungs- und Entwicklungsromans, das die Bildung, Selbstfindung und allgemeine Entwicklung eines Individuums minutiös und konzentriert verfolgt, keine reelle Ãoberlebungschance mehr. Sowohl die Brüchigkeit des bürgerlichen Lebens- und Bildungsmodells als auch die Erfahrung eines industriellen Massenzeitalters lassen die Konzentration auf das bürgerliche Einzelschicksal nicht mehr zu. Stattdessen richtet der Roman als Gesellschaftsroman sein Augenmerk auf das Kollektiv, statt ,Individualanalyse' betreibt man ,Sozioanalyse so die Maxime der Neuen Sachlichkeit der Zwanziger Jahre.4" Der Bildungsroman weicht im Zugedieser Umorientierung einem Gesellschaftsroman, dessen Kennzeichen zum einen Multiperspektivität, Vielstimmigkeit und 'Polyphonie" und zum anderen das Interesse am gesellschaftlichen Kollektiv statt am Individuum sind. Zwar ist dabei der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, wie ihn die Literatur des 19. Jahrhunderts kennzeichnet, noch greifbar; dadurch allerdings, dass die Romanprotagonisten nicht mehr als Individuen, sondern als soziale Typen konzipiert werden, verliert sich auch diese Kontinuität weitgehend. Zudem steht zumeist nicht ein Einzel-, sondern das Klassenschicksal im Zentrum. Jene Romane des 20. Jahrhunderts, die sieh im positiven Sinn noch als Bildungs- und Entwicklungsromane qualifizieren lassen, sind nicht nur in der Minderzahl. Sie stehen auch eindeutig in der Romantradition des 19. Jahrhunderts, wie z.B. Thomas Manns Der Zau-berherg. Oder es handelt sich um Antibildungsromane, die nur mehr in parodierender Form das Schema des Bildungs- und Entwicklungsromans aufgreifen. |
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